Buchrezension Vera Kaltwasser: „Praxishandbuch Achtsamkeit in der Schule“

Autorin: Vera Kaltwasser
Kartonierte/Broschierte Ausgabe:  251 Seiten
Verlag: Beltz
ISBN-13: 978-3-407-62977-7
Größe: 16,5 x 24 x 1,5 cm
Preis: 24,95 €

Vera Kaltwasser ist Qigong-Lehrerin und eine sehr produktive Autorin. Neben einigen wissenschaftlichen Aufsätzen und dem Ratgeber „Mit Achtsamkeit zum Nichtrauchen“ (Beltz 2013) hat sie binnen acht Jahren ein „Bücher-Trio“ zur Achtsamkeitsforschung und deren konkrete Umsetzung im Schulalltag verfasst.  Ihr neuestes Werk „Praxisbuch Achtsamkeit in der Schule“ hat Ralf Jakob für uns gelesen.

Nach ihrem Grundlagenwerk „Achtsamkeit in der Schule“, das 2008 erstmals das Potential der Achtsamkeit für die Schulpädagogik vorstellte, entstand für Lehrerinnen und Lehrer 2010 das Buch „Persönlichkeit und Präsenz“, damit diese sich zunächst selbst in der Haltung der Achtsamkeit schulen und erfahren können. 2011 hat die Gymnasiallehrerin und Theaterpädagogin einen wissenschaftlich begleiteten Versuch zur Einführung von Achtsamkeits- und Stilleübungen an ihrer Frankfurter Schule durchgeführt und das Programm „AISCHU“ (Achtsamkeit in der Schule) entwickelt. Diese Studie der Ludwigs-Maximilians-Universität München (Prof. Dr. Niko Kohls) wurde von der Deutschen Qigong Gesellschaft damals mitfinanziert. Für ihre Kolleginnen und Kollegen an den Schulen hat Kaltwasser nun ein „Praxisbuch Achtsamkeit in der Schule“ herausgebracht, anhand dessen es jetzt leichter fallen sollte, Achtsamkeitsübungen in den Schulunterricht einzuführen.

Wieso wird dieses Buch hier vorgestellt, wenn es sich ausdrücklich auf die Zielgruppe „Lehrer“ bezieht und das Wort „Qigong“ nur ganz wenige Male darin vorkommt? Weil es den Zusammenhang von Körper und Geist beschreibt, ohne den Qigong zu einer beliebigen Form gymnastischer Übungen verkommen würde. Sich mit seinem eigenen Körper zu befreunden, ihm wohlwollend zu begegnen – das ist eine Haltung, die sowohl durch das Einüben der Achtsamkeit wie mit Qigong-Übungen angestrebt wird. Beide Modelle nähren sich aus der buddhistischen Grundeinsicht, dass Körper, Geist und das Bewusstsein untrennbar miteinander verwoben sind. Kaltwasser, die sich während eines Sabbatjahres in der Achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction – MBSR) von Jan Kabat-Zin hat ausbilden lassen, wendet dieses Programm zur Stressbewältigung durch gezielte Lenkung von Aufmerksamkeit und durch Entwicklung und Einübung von Achtsamkeit im Berufs- wie im Schulalltag an. Das Einüben achtsamer Körperwahrnehmung (sog. Body-Scan), das Stehen oder Sitzen in Ruhe oder das langsame Gehen (als Gehmeditation) ist auch in Qigong-Kreisen wohl bekannt.

Nicht so bekannt dürften dort die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung, der positiven Psychologie und der Bindungsforschung sein, deren ausgeprägten Fachbegriffe die Lektüre des ersten Buchteils ein wenig erschweren. Hier ahnt man, dass die Autorin nur einen Bruchteil ihres Wissens zu Papier gebracht hat. Wem die beschriebenen „habitualisierten Reiz-Reaktions-Mechanismen“ des Limbischen Systems und der Amygdala und die Ausstiegsmöglichkeiten durch die Aktivierung der Hirnareale des präfrontalen Kortex (der Steuerzentrale in der Großhirnrinde) anfänglich noch schwer eingehen, wird sich im ausführlichen Praxisteil des Buches sicherlich besser fühlen. Da werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse sowohl für Schüler der Unterstufe wie für solche der Oberstufe in altersgemäße Bezeichnungen herunter gebrochen und mit ganz konkreten Übungsbeschreibungen verdeutlicht. Rüdiger und Rita Brainie, die von der Autorin erdachten Motivationsexperten, gelingt es dann viel leichter, das Spannungsfeld zwischen anflutenden unwillkürlichen Impulsen aus dem Limbischen System („Bottom-up“) und der exekutiven Kontrolle durch das Großhirn („Top-down“) zu erklären und in konkrete Handlungsschritte umzusetzen.

Qigong-Kursleitende können sicherlich von so mancher Übungsbeschreibung profitieren, auch wenn sie (noch) nicht vertraut sind mit der Selbstregulation durch die Methodik der Achtsamkeit. „Die drei Sperren lösen“ wird Qigong-Lehrenden einerseits bekannt vorkommen. Andererseits lässt sich sowohl mit dieser Übung wie mit den „magischen Wänden“ oder der „Zauberhand“ (S. 64f.) der eigene Unterricht bereichern.  Gerade, wer mit älteren und betagten Menschen Qigong praktiziert, wird erkennen, dass die einfachen Übungen wieder angesagt und gerade für diese Zielgruppe einsetzbar sind.  Ganz anregend fand ich die „Meditation der liebenden Güte“ („Metta“, S. 202f.) und die ausführliche Beschreibung des „achtsamen Dialogs“ (S. 206-217), die mich an ähnliche Übungen aus dem Coaching, dem Kommunikationstraining oder der Themenzentrierten Interaktion erinnerten. Übungen der Achtsamkeit können den Qigong-Unterricht ergänzen und bereichern. Insofern könnte es sich lohnen, sich mit diesem weiten Feld näher zu befassen.

Ralf Jakob